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Schwäbisches Tagblatt – Mittwochspalte (13.09.2023)

Schwäbisches Tagblatt – Mittwochspalte (13.09.2023)

Deniz-O. Tekin

Wahlrecht für „Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter“

Am 4. September 1973, vor genau 50 Jahren, kam mein Vater aus dem anatolischen Tepeköy als einer der „letzten Gastarbeiter“ nach Deutschland. Arbeitskräfte, die gezielt angeworben wurden, um den Arbeitskräftemangel in Deutschland auszugleichen. Diese Menschen haben ihr Zuhause verlassen, um in Deutschland zu arbeiten und zu leben und sie haben einen bedeutenden Beitrag zur wirtschaftlichen und kulturellen Vielfalt dieses Landes geleistet.
Seit über einem halben Jahrhundert sind die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter inzwischen integraler Bestandteil dieses Landes, politisch jedoch noch immer Gäste: Mein Vater hatte keinen Einfluss auf die Wahl Helmut Schmidts zum Bundeskanzler Deutschlands oder Boris Palmers zum Bürgermeister Tübingens – dabei vertritt er klare politische Vorstellungen und Standpunkte. Verurteilt, auf der Zuschauerbank zu sitzen und zuzusehen, wie Politikerinnen und Politiker das Land und die Kommune lenken, ohne Einfluss darauf gehabt zu haben. Dies steht in eklatantem Widerspruch zu den Prinzipien der Demokratie und der Gleichheit vor dem Gesetz.
Das Wahlrecht ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch der Integration. Durch die Teilnahme an Wahlen werden sich die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter stärker als Teil der Gesellschaft fühlen. Sie werden nicht nur eine engere Bindung zu ihrer Kommune und ihrem Land entwickeln, sondern sich intensiver mit den politischen Prozessen und Entscheidungen auseinandersetzen, die ihr Leben beeinflussen.

Es ist an der Zeit, diese lange bestehende Ungerechtigkeit zu beenden und den Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern das Wahlrecht zu gewähren, das sie verdienen. Dies wäre nicht nur ein Akt der Gerechtigkeit, sondern auch ein Zeichen der Anerkennung für ihre langjährigen und wertvollen Beiträge zu unserer Gesellschaft.Deutschland sollte dem Beispiel anderer Länder folgen, die bereits Schritte unternommen haben, um das Wahlrecht für langjährige Einwohnerinnen und Einwohner ohne Staatsbürgerschaft zu gewähren. Der Tübinger Integrationsrat setzt sich für dieses Recht ein!

Übrigens: Dass mein Vater noch die die Staatsbürgerschaft der Türkei besitzt, liegt an der Bürokratie und am Pragmatismus, nicht am Nationalstolz – der ist genauso ausgeprägt wie sein hiesiges Wahlrecht.

Deniz-O. Tekin