Tagblatt – Mittwochspalte (01.03.2023)
Tagblatt – Mittwochspalte (01.03.2023)
Ich lebe seit zehn Jahren in Tübingen, seit 2019 bin ich Mitglied im Integrationsrat. Ich komme ursprünglich aus Gaziantep. Meine Familie hat das Erdbeben überlebt, das Haus, in dem sie wohnten, ist allerdings Schaden erleidet. Ich empfinde jeden Tag Freude, dass sie noch am Leben sind, wo so viele Menschen gestorben sind. Auch Schmerz und Sorge. Während ich esse frage ich mich, ob meine Geschwister gegessen haben. Während ich in einer warmen Stube schlafe, ist es ihnen kalt. Manchmal werde ich auch wütend auf mich selbst, weil ich nur an meinen eigenen Brüdern und Schwestern denke (unsere Eltern sind gestorben), während so viele Menschen in der gleichen Situation sind. Ich habe nicht die Möglichkeit, allen Menschen, die Ähnliches erleben, zu helfen. Ich möchte, dass zumindest eins von meinen Geschwistern hierherkommt. Meine 43-jährige Schwester, deren Haus bei diesem Erdbeben beschädigt wurde und in der es gefährlich ist, darin zu leben.
Auf den Informationen zum sogenannten „Erdbebenvisum“ aufbauend, habe ich beim Bürgeramt nachgefragt, wie ich einen Antrag für meine Schwester stellen kann. Mir wurde eine Telefonnummer genannt, welche von 13:00 bis 16:00 Uhr erreichbar sein sollte. Ich rief in diesem Zeitfenster wiederholt und ohne Erfolg an, die Leitung war entweder besetzt oder niemand ging dran. Auf der Seite der Ausländerbehörde kam außerdem die Meldung, dass alle Termine bis Ende März ausgebucht seien. Ich habe viele Freunde und Bekannte in Tübingen, aus türkischen, kurdischen und syrischen Familien, die in einer ähnlichen Situation sind, sie rufen wiederholt und erfolglos beim Ausländeramt an. Auch in ihrem Namen schreibe ich.
Bei der vom Integrationsrat und der Stadtverwaltung organisierten Gedenkveranstaltung am 23. Februar, hat unser Oberbürgermeister, Herr Boris Palmer, Unterstützung für die Familien der Erdbebenopfer zugesichert. Hierfür bin ich sehr dankbar. Die konkrete Hilfe beginnt mit der Bereitstellung von Informationen über die Beantragung eines „Erdbebenvisums“. Diese Hilfe wiederum hängt von der Erreichbarkeit der Ausländerbehörde unserer Stadt ab. Ein Schalter oder eine hierfür zuständige Person könnten vor Ort Auskunft geben, so dass es allen Menschen, die dringend diese Form der Unterstützung benötigen, auch geholfen werden kann.
Barış Ateş (Integrationsrat)